Ein Beitrag zur Situation der Waldsaatgans Anser fabalis fabalis in Deutschland -
mit Anmerkungen zum Auftreten in Thüringen

Informationen von Thomas HEINICKE (Vilmnitz) ergänzt durch Anmerkungen zu den Verhältnissen in Thüringen von Fred ROST (Sprecher der Avifaunistischen Kommission Thüringen)

Nach den Erfassungen von Thomas Heinicke in den letzten Wintern hat sich wiederholt bestätigt, dass die Saatgansform A. f. fabalis regelmäßig und in nennenswerter Anzahl nur noch in Teilen Mecklenburg-Vorpommerns (MV) sowie im Bereich des Nationalparks Unteres Odertal in Nordost-Brandenburg (BB) vorkommt.
Nochmalige Erfassungen im Januar 2009 haben offenbart, dass die ohnehin niedrigen Bestandszahlen von 40-50.000 Vögeln aus den Wintern 2004/05 und 2005/06 sich deutlich verringerten und nur noch 22.500 Individuen in MV+BB angetroffen wurden. Waren in der Mitte der 2000er Jahre noch vorgelagerte Rastplätze am Selenter See (Ostholstein), im Mecklenburgischen Elbtal bei Besitz, an der Unteren Havel (Brandenburg+Sachsen-Anhalt) und im Spreewald (Brandenburg) besetzt, so konnten diese Plätze im Winter 2008/09 nicht mehr bestätigt werden. Ebenso konnten an wichtigen Rastplätzen in Westmecklenburg fast keine Waldsaatgänse mehr gefunden werden, und auch in den Kerngebieten an der vorpommerschen Küste, im Unteren Odertal sowie im zentralen Binnenland von MV wurden deutliche Bestandsrückgänge festgestellt. Nach ersten internationalen Einschätzungen ist die europäische Winterpopulation innerhalb weniger Jahre von 85.000 auf nur noch 60-65.000 Vögel zurückgegangen. Untersuchungen von Thomas Heinicke zusammen mit Kees Koffijberg Anfang Januar 2009 in den Niederlanden zeigten, dass hier offensichtlich nahezu überhaupt keine Waldsaatgänse mehr überwintern. Trotz intensiver Suche in allen Kerngebieten der letzten Jahre konnten überhaupt keine fabalis, sondern ausschließlich Tundrasaatgänse Anser fabalis rossicus festgestellt werden. Überprüfungen von rezenten Waldsaatgans-Fotos haben gezeigt, dass die dort als fabalis bestimmten Vögel sich allesamt als rossicus erwiesen.
Demzufolge sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass Waldsaatgänse abseits der oben genannten Vorkommensgebiete in MV und BB überhaupt in anderen Teilen Deutschlands in nennenswerter Anzahl auftauchen. Erste Überprüfungen von Fotomaterial und Fundmeldungen aus Deutschland haben ebenfalls erhebliche Probleme bei der korrekten Bestimmung von Waldsaatgänsen offenbart. Auch werden augenscheinlich phänologische Eigenheiten von Waldsaatgänsen von vielen Beobachtern und auch in Jahresberichten kaum berücksichtigt:

  • erst relativ späte Ankunft im Herbst, in größerer Zahl erst ab November, hunderte Vögel im September/Oktober abseits des Kerngebietes in Vorpommern sind praktisch ausgeschlossen, tausend Vögel im Oktober geht praktisch überhaupt nicht;
  • praktisch keine Winterfluchtbewegungen mehr, sowohl im kalten Winter 2005/06 als auch im Winter 2008/09 wurde allenfalls lokal/regional Ausweichbewegungen festgestellt; Winterfluchtbewegungen in die Niederlande und NW-Deutschland wie letztmalig in den 1980er Jahren gibt es nicht mehr;
  • sehr zeitiger Rückzug nach Osteuropa, in normalen Wintern ziehen bereits im Laufe des Februar viele Waldsaatgänse nach Osten ab und ab Anfang/Mitte März sind praktisch keine nennenswerten Trupps mehr anwesend, Trupps im April sind in normalen Jahren nicht mehr möglich.

Aufgrund der oben genannten Problematik und der erheblichen Schwierigkeiten bei der feldornithologischen Bestimmung sind alle Avifaunistischen Landeskommissionen Deutschlands gehalten, eine einheitliche Vorgehensweise festzulegen. Folgendes wird empfohlen:

  • Nachweise von Waldsaatgänsen außerhalb Mecklenburg-Vorpommerns und des unmittelbaren Umfeldes vom Nationalpark Unteres Odertal in Brandenburg sollten sämtlich durch die Avifaunistischen Landeskommissionen überprüft werden.
  • Um eine Chance zu haben, die Meldungen realistisch einschätzen zu können, sollten die Beobachter gebeten werden, Nachweise mit Photo- oder Videoaufnahmen zu dokumentieren. Nur dann ist gewährleistet, dass Meldungen eindeutig überprüft werden können.

Die bislang in der Bestimmungsliteratur genannten Merkmale sind leider nicht sehr eindeutig. Insbesondere gibt es aufgrund der erheblichen Variationen innerhalb von rossicus bzw. fabalis nicht das allein entscheidente Einzelmerkmal. Vielmehr führt nur eine Kombination mehrerer Merkmale zu einer erfolgreichen Bestimmung. Die Schwierigkeiten bei der Saatgans-Bestimmung sind somit durchaus mit denen des Großmöwen-Komplexes zu vergleichen, wo es in der Regel auch keine 100%ig sicheren Einzelmerkmale gibt. Insbesondere große, langschnäblige rossicus-Männchen sowie rossicus mit viel orange am Schnabel werden regelmäßig als fabalis fehlbestimmt. Auch manche sehr aktive Tundrasaatgänse täuschen eine Langhalsigkeit vor. Ein weiteres Beispiel von Verwechslungen sind verdreckte Schnäbel bei der Nahrungssuche auf Mais- und Rübenstoppelflächen, wo der getrocknete Schmutz bei entsprechender Beleuchtung orange Schnabelfärbungen vortäuscht und auch den Eindruck des Schnabel-Kopf-Profils verändert. Ebenso können manche rossicus-Jungvögel im Herbst recht schlankschnäblig wirken und eine fabalis vortäuschen.
Von Thomas Heinicke wird gerade eine aktuelle Übersicht zum Auftreten der Waldsaatgans in Deutschland (sowie eine Gesamtübersicht für Europa) erarbeitet, in die auch möglichst alle Beobachtungen der letzten Jahre außerhalb der Hauptvorkommensgebiete aufgenommen werden sollen.

In Thüringen wurden seit dem Jahre 2000 lediglich zwei Beobachtungen aus Südwestthüringen aus dem Jahr 2005 gemeldet, aber wegen fehlender Beschreibung abgelehnt. Am 4.2.2007 konnten erstmals wieder zwei Vögel im Kreis Altenburger Land beobachtet werden, von denen am 6.2.2007 auch Fotos angefertigt werden konnten (Abb. 1).
Alle Beobachtungen von offensichtlichen oder vermeintlichen Waldsaatgänsen in Thüringen bitte mit Foto- oder Videodokumentation an die Avifaunistische Kommission Thüringen einsenden.



Abb. 1: Waldsaatgans (Anser fabalis) (aufrechter Vogel)
Serbitzer Becken, Kr. Altenburger Land; 6.2.2007 (Photo: Jürgen Steudtner)



Abb. 2: Tundrasaatgans (Anser rossicus)
Wilchwitz, Kr. Altenburger Land; 1.3.2006 (Photo: Steffen Wolf)



Abb. 3: Tundrasaatgans (Anser rossicus)
Serbitzer Becken, Kr. Altenburger Land; 31.1.2009 (Photo: Steffen Wolf)